Wie meine (Schwieger) Urgroßmutter Christine den armenischen Völkermord überlebte

Immer wenn Aida, meine alte (Schwieger) Großmutter, das Wort "Van" hört, füllen sich ihre Augen mit Tränen, ihr Herz mit einer tiefen Schwere und ihr Kopf wird mit Geschichten und Erinnerungen geflutet. Als Geschichtslehrerin hat sie die Historie des ältesten christlichen Staates studiert und ihr Leben ist eng mit dieser Geschichte verzweigt. Van, das ist ein See, eine Stadt unweit des berühmten Berges Ararat, in der ihre Mutter geboren wurde.
Vor ungefähr 105 Jahren lebten ungefähr 2,4 Millionen Armenier im alten türkischen, osmanischen Reich. Eines von ihnen war ein kleines Mädchen namens Christine. Sie wurde vielleicht 1909 in Van geboren, als die nationalistische Gruppe der Jungtürken an die Macht kam. Diese Gruppe betrachtete die Türken als überlegene Rasse und so fingen sie an, Gesetze zum Nachteil aller Nicht-Muslime in die Wege zu leiten. Als Christine fünf Jahre alt war, begann der Erste Weltkrieg. Ihr Vater und ihre Brüder zogen für das alte türkische Reich in den Krieg und wurden nie wieder gesehen. Wahrscheinlich sind sie der ersten Vorbereitung des Genozids zum Opfer gefallen. Historischer Kontext:
Anfang 1915 wurden die armenischen Soldaten der türkischen Armee auf einen niederen Status reduziert. Bis zu dieser Zeit waren die meisten von ihnen Kämpfer gewesen, aber dann wurden ihnen die Waffen abgenommen sie sie mussten fortan Bauarbeiten ausführen. Anstatt ihrem Land als Artilleristen und Kavalleristen zu dienen, stellten diese ehemaligen Soldaten nun fest, dass sie in Straßenarbeiter und Lasttiere verwandelt worden waren. [...] In vielen Fällen wurden armenische Soldaten [...] entsorgt. In fast allen Fällen war das Verfahren das gleiche. Hier und da wurden Trupps von oder 100 Männern genommen, in Vierergruppen zusammengebunden und dann zu einem abgelegenen Ort in der Nähe des Dorfes geführt. Plötzlich füllte das Geräusch von Gewehrschüssen die Luft, und die türkischen Soldaten, die als Eskorte fungiert hatten, würden alleine ins Lager zurückkehren. [...] Das alles nicht nur, um alle Männer zu entfernen, die eine neue Generation von Armeniern schaffen könnten, sondern auch um den schwächeren Teil der Bevölkerung zu einer leichten Beute zu machen. Quelle
Nach zahlreichen weiteren Vorbereitungen und vielen brutalen Progromen, wird die Ausführung des Genozids vom amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau sen. in seinem Buch wie folgt beschrieben:
Während des gesamten Frühlings und Sommers 1915 fanden Deportationen statt. [...] praktisch alle Orte, an denen eine armenische Familie lebte, wurden zum Schauplatz dieser unaussprechlichen Tragödien. [...] In einigen Dörfern wurden Plakate angebracht, auf denen die gesamte armenische Bevölkerung aufgefordert wurde, sich zu einem festgelegten Zeitpunkt - normalerweise ein oder zwei Tage im Voraus - an einem öffentlichen Ort zu erscheinen, und an anderen Orten ging der Stadtschreier durch die Straßen, um den Befehl zu übermitteln. Anderen wiederrum wurden nicht im Geringsten vorgewarnt. Die Gendarmen erschienen vor einem armenischen Haus und befahlen allen Bewohnern, ihnen zu folgen. Sie nahmen Frauen, die gerade mit ihren häuslichen Aufgaben beschäftigen waren, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, sich umzuziehen. [...] Frauen wurden aus den Waschwannen gezerrt, Kinder wurden aus den Betten gerissen, das Brot wurde halb gebacken im Ofen zurückgelassen, das Familienessen nicht fertig gegessen, die Kinder wurden aus den Schulzimmern eskortiert und ihre Bücher offen liegen gelassen. Männer, die mit ihrer täglichen Arbeit beschäftigt waren, wurden gezwungen, ihre Pflüge auf den Feldern und ihr Vieh auf der Bergseite aufzugeben. Sogar Frauen, die gerade Kinder zur Welt gebracht hatten, wurden gezwungen, ihre Betten zu verlassen und sich der panischen Menge anzuschließen, mit ihren schlafenden Babys in den Armen. [...] Auf ihre verzweifelte Frage "Wohin gehen wir?" versichterten die Gendarmen mit der Antwort: "Ins Landesinnere." [...] Dorf für Dorf und Stadt für Stadt wurde unter den bereits beschriebenen, schrecklichen Umständen die armenischen Bevölkerung deportiert. In diesen sechs Monaten begannen, soweit festgestellt werden kann, ungefähr 1.200.000 Menschen eine Reise in die syrische Wüste. [...] Am siebzigsten Tag erreichten einige "Kreaturen" Aleppo. Von einem einstigen Konvoi aus 18.000 Seelen erreichten nur 150 Frauen und Kinder ihr Ziel. Andere Frauen, die attraktivsten, lebten noch als Gefangene der Kurden und Türken; der Rest war tot. Audio-Quelle
Irgendwie muss Christines Mutter Ginovarpe von diesen Gräueltaten gehört haben oder sie hat gespürt, was sich anbahnt. Auf jeden Fall machte sie sich auf die Flucht in die entgegengesetzte Richtung, zur nördlichen Grenze des Reichens. Die erste Erinnerung, die Christine hatte, war die von der Flucht zusammen mit ihrer Mutter und ihrer hochschwangeren Schwester Arschaluys, zu Fuß. Sie schlossen sich einer Gruppe von Armeniern an, die ihr Schicksal teilten. Eines Tages bemerkte jemand aus der Gruppe, dass sich türkische Soldaten näherten. Sofort machte sich Panik breit und die Gruppe zerstreute sich in alle Richtungen. Diese ungeheuerlich stressige Situation führte dazu, dass bei der Schwester Arschaluys die Wehen einsetzten und sie eine Frühgeburt erlitt. Sie starb nachdem sie einen kleinen Jungen zur Welt gebracht hatte. Das Baby überlebte die Strapazen jedoch nicht, obwohl sich bei Christines Mutter (kurioserweise) Muttermilch bildete und sie das Baby stillen konnte. Hungrig und ohne Gruppe flohen Mutter und Tochter alleine weiter. Mit jedem Tag wurde die Mutter schwächer und schwächer bis sie beschloss, sich einem unbekannten Dorf zu nähern. Es war eine äußerst riskante Entscheidung, wie wir aus dem historischen Kontext wissen. So wie aus dem Beispiel eines deportierten Überlebenden aus Harput:
Am 52. Tag kamen wir in einem Dorf an. Dort nahmen uns die Kurden alles weg, sogar unsere Kleidung und fünf Tage lang mussten wir nackt in der prallen Sonne marschieren. Für weitere fünf Tage bekamen wir weder Essen noch Wasser. Hunderte und Hunderte fielen tot um, ihre Zungen wie Holzkohle; und als wir am Ende des fünften Tages einen Brunnen erreichten, eilte natürlich die gesamte Karawane darauf zu, aber die Gendarmen standen ihnen im Weg und verboten ihnen, einen Tropfen Wasser zu trinken, weil sie das Wasser verkaufen wollten: für drei Lira pro Tasse.
Ginovarpe nahm Chrisine bei der Hand und ging trotzdem ins Dorf. Ein türkisches Paar entdeckte sie und aus purem Mitleid nahmen sie die beiden bei sich auf. Beide wurden einige Tage lang versorgt und gepflegt. Sie mussten (auch im Interesse ihrer Beschützer) versteckt bleiben. Historischer Kontext des zuständigen Innenministers Mehmed Talât Pascha:
Ein Muslim, der einen Armenier beschützt, soll vor seinem Haus hingerichtet und sein Haus niedergebrannt werden.
Leider war Ginovarpe zu schwach, um sich zu erholen. In der Nacht vor ihrem Tod nahm sie Christines Kleid, webte ihre Familiengoldmünzen hinein und sagte ihr, sie solle dieses Kleid niemandem hergeben. Als ihre Mutter am nächsten Morgen nicht aufwachte, rief Christine die türkische Frau. Doch die sagte zu ihr: "Mach dir keine Sorgen um deine Mutter. Sie schläft nur sehr tief." Später bemerkte Christine einen Karren, der etwas in Leinen umwickelt weg transportierte. Sie blieb eine zeitlang im Dorf, in der diese türkische Familie sie beschützte und kein Haar krümmte. Sie verkauften sie nicht - im Gegensatz zu ca. 200.000 Mädchen in dieser Zeit. Sie vergewaltigten dieses kleine Mädchen nicht - im Gegensatz zu unzähligen anderen Frauen und Kindern. Sie berührten nicht mal ihre Habseligkeiten, ihr Gold. Sie waren in der Tat "Gerechte unter den Völkern" unter Einsatz ihres Lebens. Christine erinnerte sich nicht daran, wie lange sie bei diesem Paar blieb, aber eines Tages hörten oder sahen diese eine andere Gruppe armenischer Flüchtlinge und vertrauten ihnen Christine an. Sie erinnerten Christine nochmal daran, ihr Kleid niemandem herzugeben. Also ging Christine mit dieser neuen Gruppe und ging und ging, bis ihre kleinen Füße sie nicht mehr tragen konnten. Sie konnte nicht mithalten, blieb einfach zurück, setzte sich und begann zu weinen; ganz allein, mitten im Nirgendwo. Nach einer Weile hörte sie das Klappern von Pferdehufen. Aber Christine hatte weder Kraft noch den Willen, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Sie erwartete ihr Schicksal als der Reiter, ein Soldat in voller militärischer Ausrüstung und mit langem Bart, näher kam und vor ihr stehen blieb. In ihren Augen war er riesig und als er seine Hand hob, verschränkte sie ihre Arme vor dem Gesicht und erwartete einen tödlichen Hieb. Aber der Reiter entpuppte sich als russischer Kosake. Er hob Christine hoch und setzte sie vor sich aufs Pferd. In einem sehr langsamen Tritt brachte er sie in ein Waisenhaus in die Stadt Alexandropol. Christine kannte ihren Familiennamen nicht und sie kannte ihr Alter nicht. Bei der Ankunft waren die meisten Kinder mit Dreck überzogen und voller Läuse. Also ließ sich Christine die Haare schneiden aber als man ihr das Kleid abnehmen wollte, protestierte sie vehement, ohne Erfolg. Alle Kleidungsstücke wurden aus hygienischen Gründen verbrannt. Sie fühlte sich deswegen anfangs verraten und betrogen. Trotzdem fand sie in diesem Waisenhaus ein neues Zuhause. Geschichte des Waisenhauses
Irgendwann wurde sie von dem Sportlehrer des Waisenhausen Vahan Cheraz adoptiert und ging später in die Hauptstadt um zu studieren. Sie heiratete, bekam einen Sohn und eine Tocher, Aida, die selbst Geschichte studierte und ihre persönliche Geschichte weitererzählt. ------ Weitere Augenzeugenberichte (ins Englische übersetzt) ------ Slide show of the genocide

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